Donnerstag, 1. Juli 2010

Rosinen

1.Juli 2010
Edda,

was in die Lücken, die das Schweigen lässt, schlüpfen kann, wissen wir. Wir Frauen, sage ich einmal, mit einem ausgeprägten Hang zu. Zweifel, Selbstbefragung, Fantasma, Emphase. Hab ich etwas falsch gemacht? Verzeih.

Man denkt beim Reden und beim Schweigen. Das Denken beim Schweigen ist asozial oder es geschieht in kollektivem Einverständnis. Dennoch scheint es mitunter keine andere Möglichkeit zu geben. Ich nenne es Verstummen. Schweigen ist etwas Anderes. Lerne schweigen ohne zu strafen, nicht wahr. Schweigen als Befreiung von Konvention ist mir lieb und recht. Verabredetes Schweigen am liebsten. Als Kinder spielten Tanja und ich: Wer von uns beim gegenseitigen Anschauen am längsten schweigen kann, nicht einmal die Miene verzieht, geschweige denn lacht. Ich erinnere keine andere Gelegenheit bei der wir es ausgehalten hätten, uns so ausdauernd in die Augen zu sehen. Ich habe sie um ihren Mund beneidet. Wie geschaffen für spöttische Bemerkungen und Renitenz. Meiner schien mir dagegen nichts weiter als eine Verschlusskappe, irgendwie harmlos.

Wie gerate ich von dort zu deinen Rosinenbombern. Das macht das in-Berlin-Sein aus. Die Anschaulichkeit. Dort. Hier hat sich das meiste unter Tage abgespielt, vielleicht ist das eine entscheidene Prägung, dieses Verschwinden unter der Erde, das Auftauchen. Das staubige Wissen: die Oberfläche = nicht alles. Es liegt keine Wertung darin (das war ein Schimpfwort, seinerzeit, dass eine oberflächlich ist, damit konnte man treffen). Tanja und ich haben in einem Ort gelebt, wie du weißt, auf den nichts von alldem zutraf. Ein ausgedehntes Nichts. Eine breite Hauptstraße wie in den Romanen von Sinclair Lewis, mit wenigen Läden. Der Schornstein einer Fabrik, werkseigene Wohnungen, einige freistehende Häuser. Eine Scheidung, ein drogenabhängiger Zahnarzt, ein Ingenieur, der Firmengelder unterschlug. Das alles kommt mir heute beinahe exotisch vor. Nicht enden wollende Warteschleife.

Hier ist es auf eine angenehme Weise so heiß, dass alles andere als sich dem hinzugeben idiotisch scheint. Flüssigklebstoffliche Zeit. Die Frisöse, gestern, löste sich von der Mauer, gegen die gelehnt sie im geöffneten Fenster zum Hinterhof saß, setzte ein terrierartiges Hündchen vom Schoß auf die Erde und kam mir ohne Eile entgegen. Eine völlig belanglose Szene. Und doch fand ich sie so außerordentlich, auf eine ergreifende Weise lässig, urban, sommerlich, dass sie sich mir als Sequenz eingeprägt hat. Sie sprach nicht viel, was mir angenehm war, aber mitten in das Schweigen hinein sagte sie, sie führe seit Jahren Buch über das Wetter, das dem Siebenschläfertag folge und also würden uns sieben weitere Wochen Sommer bevorstehen.

Jetzt, wo ich bei geöffneten Fenstern den Vögeln lausche, fällt mir der Satz aus einem Theaterstück ein, das ich während unserer stillen Post sah. Die Vögel seien virtuose Ratten, die sich den Singsang angeeignet hätten. Wie soll ich darüber hinwegkommen.

Das Haus füllt sich, ich gehe dorthin, wo die anderen sind. Schick dir ein Pfund Rosinen, süßer Klebstoff. Mit Herz.

Daphné

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