eine Scheidung, ein drogenabhängiger Zahnarzt, ein Ingenieur, der Firmengelder unterschlug

Berlin, 5. Juli 2010
liebe stille Daphne,

na gut, da bist Du wieder, wirklich. Ich will mich daran gewöhnen und Dich immer wieder exotisch finden. Eine Scheidung, ein drogenabhängiger Zahnarzt, ein Ingenieur, der Firmengelder unterschlug... eine Scheidung, ein drogenabhängiger Zahnarzt, ein Ingenieur, der Firmengelder unterschlug.... das könnte ich ewig vor mich hin sagen. Wie erzählbar war Welt, als man sie noch übern Gartenzaun rüber verhandeln konnte, ohne Analyse und System. Ich habe gelernt, allem Erzählbarem zu misstrauen. Hat das auch & schon wieder mit Stadt zu tun?
Georg Simmel:

Der Mensch ist ein Unterschiedswesen, d. h. sein Bewusstsein wird durch den Unterschied des augenblicklichen Eindrucks gegen den vorhergehenden angeregt; beharrende Eindrücke, Geringfügigkeit ihrer Differenzen, gewohnte Regelmäßigkeit ihres Ablaufs und ihrer Gegensätze verbrauchen sozusagen weniger Bewusstsein, als die rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder, der schroffe Abstand innerhalb dessen, was man mit einem Blick umfasst, die Unerwartetheit sich aufdrängender Impressionen.
Indem die Großstadt gerade diese psychologischen Bedingungen schafft - mit jedem Gang über die Straße, mit dem Tempo und den Mannigfaltigkeiten des wirtschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen Lebens - stiftet sie schon in den sinnlichen Fundamenten des Seelenlebens, in dem Bewusstseinsquantum, das sie uns wegen unserer Organisation als Unterschiedswesen abfordert, einen tiefen Gegensatz gegen die Kleinstadt und das Landleben, mit dem langsameren, gewohnteren, gleichmäßiger fließenden Rhythmus ihres sinnlich-geistigen Lebensbildes.


Tja, davon leitet Simmel den intellektualistischen Charakter des Großstädters ab. Denn der Verstand gehöre zu den obersten Schichten unsere Seele und sei deshalb anpassungsfähig. Statt mit Gartenzaun-Gemüt und inneren Erschütterungen spannt der Großstädter seinen Hirnschirm auf. Gestern so, heute so. Wer sich über alles aufregt, kommt nicht über die Straße.
Dabei rege ich mich oft auf. Über Straßenmusikanten, zum Beispiel, wie jede Art von Zwangsbeglückung. Außerdem soll ich als born-and-bred-Berlinerin oft genug die schroffen Abstände in der Stadt mit Geschichten füllen. Dabei ist die Stadt für mich wie ein löchriger Käse, sind zu viele Lücken. Eine Einzelne kann das gar nicht erzählen. Im Rixdorfer Horizont – eine Gesteinsschicht – ist ein Mammut-Unterkiefer gefunden worden. Hier in Neuölln. Ich finde das lustig.
Der Frisör schweigt auch und lacht, als ich die Haare immer kürzer haben will. Ich weiß nicht, ob er mich auslacht, weil er weiß, dass ich sowieso nie eine richtige Frisur haben werde. Wie auch. Gibt so viele. Und, genau, die ganzen Zweifel! Außerdem ist es herrlich egal. Die täglich wechselnden Bilder schützen auch mich, kein Bild verfestigt.
Vorhin hat eine Frau am Steuer umständlich gewendet, hinter ihr wird gehupt. Dann hupt noch einer auf der Gegenfahrbahn (und ich fang an mich aufzuregen). Dann hupt die Frau am Steuer auch und alle dreie lachen. Wie stellt man fest, ob man genügend Verstand für Stadt besitzt? Oder entwickelt der sich automatisch wie'n Sonnenbrand.

von hier... von edda.

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