Donnerstag, 24. Juni 2010

luftbrücke

Berlin, 24. Juni 2010
beste Daphne,

virtuos: wie Du das Verstreichen der Zeit übergehst. Vom Schweigen schweigst. Silence is a strong reply. Kennste das. Mein Leitspruch. Den ich mir aus Erfahrung zu eigen gemacht. Entschlossenes Schweigen halte ich für höflicher als entschlossenes Rumheucheln. Also gut, dann haben wir nicht geschwiegen. – Anstrich.
Zwischenzeitlich war ich bestimmt 4 mal im Kino, betrunken, 1 mal zu spät dran, 3 mal im Theater, 4 hatten Geburtstag und 1e hat gefeiert, 1 Streit, 1 Konzert. Ich kann Dir nichts davon erzählen. Das Meiste war Arbeit. Pure Verdingung, neuerdings, ich soll entsetzlich viel reden, auf der Arbeit, für die Arbeit, das ist meine Arbeit. Ich möchte doch keinen Beruf, in dem ich viel mit Menschen zu tun habe. Tierpfleger sind beliebt.

Der letzte Rosinenbomber geht grad zu Bruch. Mich stimmt das blümerant. Noch mal thank you, Mister Clay. Im Namen meiner Ahnen. Amen
edda

Freitag, 4. Juni 2010

Krempel & Konsorten

4. Juni 2010
Dear Edda,

fort mit Krempel und Konsorten! Ach, schön wäre das. Ich übergehe das Verstreichen der Zeit. Lange waren wir unseren Erzeugern böse. In welchen Mief sie uns da aus bloßer Konvention (ja doch keinesfalls aus Überzeugung oder gar vorauseilender Liebe) geboren hatten, in welchen Moder. Unbelehrte Aufforderung zum Ducken: Fallt bloß nicht auf. Jedenfalls nicht unangenehm. Die Dramaturgie der Worte sollte ein Scherz sein. Auf der Innenseite der Küchenschranktür hing eine Fotografie deiner Großmutter in BDM-Uniform, sie hing immer dort, ist dort noch, schau nach, wenn du sie besuchst und lass es mich wissen. Es hat jeden Umzug überstanden. Dass das gemeinsame Singen an Lagerfeuern jedenfalls schön gewesen sei, bedeutet das und die Kinderlandverschickung ein Abenteuer in den Bergen. Die Annahme, Geschichte und Gefühle wirkten nicht mehr, kommt mir esoterisch vor.
Übrigens schmerzen mich die im Foto festgehaltene Schönheit ihrer Jugend, die weichen Lippen, immens hohe Stirn, fast weiße Locken, ein langer glatter Hals, der vollkommen offene Blick. Was wird aus uns.
Mir ist blaugrau, heute unbeirrt leise heiter, obwohl noch immer ohne Benachrichtigung. Ohne Auftrag. Das Geld wird knapp. Als was verdinge ich mich. Interessantes Wort, nicht wahr.
Spät, knapp aber herzlich:
Daphne

Freitag, 7. Mai 2010

latrinenparolen

Berlin, 7. Mai 2010
liebe Tante,

... was bitte sind Drahthäfen? Goldkordelkante, Kriegsverletzung, Brokatbordüre. Deine Erinnerungen sind viel älter als Du. Anstandsbegriffe & Cognacbohnen, wie haben die in Dir überlebt. Oder täusch ich mich in Dir, das müsstest Du mir sagen, dann sind Deine Kirschen-Ohrringe pure Tarnung. Und in echt bist Du in Ferne zu 2010, weil Du mit den 50ern noch längst nicht durch bist. Echt, ich bin verwirrt. Du bist doch meine tolle Tante; jetzt entpuppst Du Dich als toller Bunker. Du musst mir alles haarklein erzählen, aus demselben Sud kommt Tanja, die hat alles vergessen. Tanja wirkte grundsätzlich gekränkt. Darüber, dass sie in so eine nichtssagende Herkunft reingeboren wurde. Aber sie lebt ja noch und profitiert davon, dass sie so hübsch anders ist. Wurscht. Erbe ist Erbe, egal wie man’s dreht. Nicht?
Ich hab mal wieder Glück, ich bin vorm Fernseher groß geworden und deswegen kenne ich die schönste hoppla!-ohne-Brille-ist-sie-ein-echter-Feger-Szene aller Zeiten. New Romancer Adam Ant schubbert so lange an einer Journalistin in Kostüm und mit Riesenbrille rum, bis sie irre befreit mit ihm durch die Gegend tanzt. Dann nimmt er ihr die Brille ab, der Rest geschieht hinter verschlossenen Türen, herrlich. Hier siehst Du alles über meine frühen Jahre (ich wollte Journalistin werden.) http://www.youtube.com/watch?v=9MqCd9DzVtQ
Ich möchte einen Zusammenschnitt sämtlicher Filmszenen, in denen er ihr die Brille abnimmt, worauf sie ihren wahren weiblichen Wert erkennt.

Ok, Du wartest. Eine Freundin sagte mal zu mir: „Du kannst warten.“ Hab ich nicht verstanden. Ich hatte bloß Geduld. Außerdem warte ich gern, Pünktlichkeit mag ich nicht. Die Minuten, die ich irgendwo bestellt und nicht abgeholt verbringe, sind für mich geschenkte Zeit. Ich komm mir dann vor, als wär ich heimlich auf der Welt, mir gefällt das. – Oder verkenne ich das protestantische Erbe? Im Wartestand ist es erlaubt, sinnlos da zu sein und nichts zu tun, man ist ja bestellt! Auweia, ich bin nicht in der Kirche, aber genieße die Freiheit in der Abhängigkeit (und bin selbst immer pünktlich.) Schön hört sich das nicht an. Du warte nur. Früher war wart’s nur ab! ne Drohung. Oder sagst Du das Deinen Kindern heute noch, sei ehrlich.
Du wirst schon sehen, was Du davon hast,
deine edda.

Donnerstag, 6. Mai 2010

Pelle

Dortmund, 6. Mai 2010
Ach Edda,

weißt du, was ich auf die Schnelle gelesen habe: Praxis Leberwurst. Von dir für mich. Was soll das. Dann: Praxis Lebenswurst. Mensch in Pelle, in Darm, jawoll! Gewickelt, gepresst, gezerrt, durchgedreht und eingestampft, abgefüllt und zugebunden. Vielen Dank, hab mich lieb. Zum Fressen gern. Ich muss zum Augenarzt oder: alles besser als Lebenswert. Ein Lob der Kurzsichtigkeit. Unschärfe ist eine herrliche Option für mich. Nach Jahren, in denen ich mit Kontaktlinsen gekämpft habe und sich die Frage nach einer Augenoperation stellte, habe ich nun einfach meine Haltung verändert (Jaja, man kann auch mal eine Rille überspringen oder auf der Platte rumkratzen). Die Brille bietet Schutz und Möglichkeiten. Ein Akt der Befreiung.

Filme der Kindheit: Eine Sekretärin liebt ihren Chef, der Chef sieht sie gar nicht, denn sie trägt eine Brille und ihr Haar ist zu einem strengen Knoten nach hinten gekämmt. Einmal stehen sie auf der Straße und reden, er schaut zu ihr hinunter, sie schaut zu ihm hoch, da trifft sie der Scheinwerfer eines Wagens, der Chef löst das Haar, nimmt ihr das Brillengestell ab, dann küsst er sie. Da weißt du alles über meine frühen Jahre.

Der mit dem steifen Arm übrigens zog unsereins, also den weiblichen Familiennachwuchs in kurzen Faltenröcken aus Strick, in Dirndlkleidern, Kniestrümpfen mit Lochstickerei etc. bei jedem Besuch auf sein Bein, Schoß zu sagen wäre nicht korrekt. Tanja und ich mochten das nicht, Weigerung galt als unhöflich und als Zeichen mangelhaften Respekts vor Erwachsenen. Man sah ihm manches nach. Onkel Mick und seine Frau waren kinderlos, so hieß das, geblieben, der steife Arm Folge einer Kriegsverletzung. Das alles riecht noch immer nach Schnäpsen aus perlmuttschimmernden Gläsern in Drahthäfen auf Sofatischen, die mittels einer Kurbel rauf- und runtergefahren werden konnten, zwischen Kissen mit Goldkordelkanten und Brokatbordüren.

Der Glückwunsch kommt verfrüht, ich schrieb: Ich erwarte. Warten ist eine Grundposition, was mich betrifft, ich warte immer auf etwas. Mach mal nicht die Ferne nieder, verteidige die Nähe nicht. Wo bleibt der Abstand? Warum denn in die Ferne schweifen, sieh das Gute liegt so nah. Wohin auch immer, du nimmst ja stets dich selber mit usw. Das sind doch Latrinenparolen, die zum Stillhalten in Spurrillen verdonnern. Hoffe für dich und mich, es gibt mehr als drei Wege. Ich drück dich feste.
Daphné aus D.

Freitag, 30. April 2010

schlepptau

Berlin, 30. April 2010
Daphne...

Wow. Die Stadt an der Seine. Erinnert mich an Onkel Mick. Das Ding für die linke Hand. Das Papier wo die Straßen drauf sind. Der mit dem steifen Arm. Als er begann das Gedächtnis zu verlieren. Du wurdest die mit den schönen Haaren. Ich glaube, ich wurde die Dings. Nicht? Also die Stadt an der Seine, mit 5 Buchstaben. Und ich könnte dahin, wieder so eine Möglichkeit! Ich nehme ein Schaumbad. Ich bleibe hier, die Stadt an der Seine ist mir zu romantisch. Pracht nervt mich. Ein Hirnforscher sagt: „Es kommt darauf an, mit welchen Emotionen man fernsieht. Das Gehirn wird ja so, wie man es benutzt.“ Ich trage mein Gehirn durch Neukölln und sehe nicht in die Ferne. Gibt es eine Möglichkeit, nicht zur Geisel der benutzereigenen Hirnspuren zu werden? Und komm mir nicht wieder mit der Kinderdroge. Ich suche den dritten Weg. Zuallererst: Glückwunsch, Deine edda.

ps, letztens um die Ecke, ich musste so an Dich denken...
lebenswert

Dienstag, 27. April 2010

Schlottern

27. April 2010
Liebe liebe Edda,


Die Häme gegen die Steigerung >sehr< ist ein Einwurf von James Joyce, solche Sachen bleiben bei mir hängen wie Gelächter in deiner Jahreswäsche zwischen Pilotencodes und Idiotenkauderwelsch.
Was soll ich sagen, ich kann zum Themenwechsel küchenlateinisch reimen: Illusionen, die sich lohnen (mehr noch, ich könnte durchaus auch Rosamunde Pilcher schauen, darum spare ich mir, aus Angst vor Suchtgefahren, das TV vom Munde ab). Dass einer dich durch Berlin stößt und zieht ist mir erschreckend vertraut. Es sollte nicht sein, dieses Reagieren, findest du nicht, ich halte es für einen meiner schwerwiegenden Fehler.

Ich erwarte einen Auftrag. Man hat mir zugesagt, in diesem Jahr einen mehrwöchigen Aufenthalt in der Stadt an der Seine antreten zu dürfen. Ich werde Oskar mitnehmen, nicht wahr, und du dürftest mich, wenn du willst, auf der Flucht vor Besserwissern besuchen. Die schönste Performance von A., die ich kenne, ist jene, in der sie und ihr Partner einander gegenüber stehend einen Türdurchgang blockieren und die Passagierenden zwingen, sich entweder der einen oder dem anderen zuzuwenden, eine Entscheidung darüber zu treffen, ob Vorder- oder Rückseite die intimere sind und was es bedeutet, sich in die Augen oder vor die Brust zu schauen, denn geradewegs durch geht es ja nicht. Du siehst, ich bin ein harmloser Mensch, der geringe Reize benötigt. Zu sehen, wie eine sich malträtiert, würde mich im Innern krampfen lassen, aber auch, du ahnst es sicher, greife ich nirgends ein, solange sich die Dinge IN DER FERNE abspielen, meine TV-Verweigerng ist natürlich auch eine Art, mich abzuwenden und mich vor dem Impuls, eingreifen zu müssen, und der folgenden Ohnmacht bzw. Selbstentmächtigung zu bewahren.

Einmal sprach ich einen Wachhabenden in einem Bahnhofseingang an, weil ein Trupp Glatzen rückwärtig (auf dem Hemd) Blutbad im Rassenhass ausrief. Als der mit mir im Schlepptau auf die Gruppe zuging (es war, stellte sich heraus, nichts, was eindeutig untersagt werden konnte, ja nur eine Kleideraufschrift) schlotterten mir schon die Knie.
Zum Supermarkt so viel Einverständnis: Auf jeden Fall wollte ich nicht in den Supermarkt gehen müssen, wenn ich glücklich verliebt wäre.
Wir müssen einander gar nicht verstehen, nur schreiben! Herzlich deftig
Tante D.

Montag, 26. April 2010

wer ist J.J.?

Sonntag, 25. April 2010

eingriff

Berlin, 25. April 2010
Liebste Daphne,

jetzt ist es raus: ich verstehe Dich nicht. Die dem Wirklichen verhaftete und an ihm zu messende Möglichkeit das ist für mich bloß: die Alternative. Etwa Müntefering, der den gegen Hartz4-Protestierenden zuruft „ja schlagen Sie doch was Besseres vor.“ Im Rahmen der Finanzierbarkeit. Und wenn der Rahmen faul ist. Falsch, foul. – Ich komme Dir entgegen, indem ich einsehe, dass das Mögliche dem Denkbaren, Vorstellbaren verhaftet ist. Und das kommt ja irgendwo her, aus Vergangenheit, Reklame oder Rausch. Alles irgendwie irdisch. Wir müssen unbedingt das Thema wechseln!, ich verliere alle Illusionen. Die ich den Hoffnungen vorziehe, weil sie weniger pragmatisch sind.
„N.M, 44, ist die Tochter eines ehemaligen Chanel-Models, ihr Vater arbeitete als Journalist in Hollywood. Sie wuchs in Paris, Madrid und Los Angeles auf. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Moderedakteurin für die Zeitschriften Women’s Wear Daily und Tatler.“ Das lese ich in meinem Holzmedium. Großes Interview. Was die Dame studiert hat, erfahre ich nicht. Ist offenbar egal, die Rahmenbedingungen stimmen.

Gestern einen Vortrag gehört über Abramovic’ Performance Thomas Lips – kennste? Sie isst ein Kilo Honig, trinkt einen Liter Wein, steht auf, ritzt sich einen Stern in den Bauch, peitscht sich aus. Legt sich auf ein Kreuz aus Eis, lässt den zerschnittenen Bauch von einem Wärmestrahler aufheizen, damit das Blut üppiger fließt. Die Empathie der Zuschauer zwingt sie zum Handeln, sie greifen ein und retten sie aus ihrem Szenario. Jahre später wiederholt Abramavoic die Performance. Ich lerne: sie stellt einen Wachmann ein, der verhindern soll, dass die Zuschauer sich ihrer erbarmen. Observation is action. Auch eine Möglichkeit.
Ich glaube, ich glaube nicht an so etwas wie Nicht-Handlung.
Die Liebe ist keine Himmelsmacht.
Wenn ich unglücklich verliebt bin, würde ich (manchmal) gern dreimal in der Woche in den Supermarkt gehen müssen. Aber das behältst Du für Dich. Ich bin auf eine Party eingeladen und gehe nur hin, weil ich Schnaps trinken will. Ein Hoch auf den Pilotenchef der Lufthansa, W.K.: "Egal, was eine Modellrechnung ergibt, eine Wolke, die wir nicht sehen, kann so bedrohlich nicht sein." Darüber kann ich jahrelang lachen. Dem sein Realitätssinn hätte ich gern. Ich fühle mich bedroht durch die Präsenz einer männlichen Gestalt, die gerade irgendwo in Berlin ist und meide bestimmte Bezirke. Dann geh ich extra in diese Bezirke, weil ich die Fremdbestimmung hasse, rein ins Krisengebiet, wie eine Milizionärin. Dort dann bewaffnet, ohne Auftrag. Daphne, es ist absurd. Ich möchte eine Checkliste, bitte, sonst heb ich nie ab,
deine irdische e.

Checkliste für Piloten: Er hat für sich selbst ein höheres System entdeckt und realisiert, mit dessen Hilfe er nahezu die allerletzte unterbewusste Zufälligkeit in den Beobachtungskanal bewusster Wahrnehmung zwingt: Eine Checkliste, die ihm ein ausgefuchstes und durchdachtes Denk- und Ablaufschema vorgibt, sowie seinen Denkapparat ganz wesentlich entlastet.

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